DER JUNGE geht in die erste Klasse der örtlichen Grundschule. Seine Kindergartenzeit war schwierig. Wenn es stressig wurde, hatte er immer mal wieder Spielsachen auf den Boden geworfen oder ein anderes Kind gehauen. Das steht alles in seiner Akte. Die haben die Lehrer, der Sonderpädagoge und die Rektorin natürlich gelesen. Am ersten Schultag weist die Klassenlehrerin die Schulbegleitung an: „Bitte halten Sie sich nie weiter als eine Armlänge vom Jungen entfernt.“ Dem Jungen fällt es schwer, Kontakt zu seinen Mitschülern zu bekommen. Nur bei Bewegung und Spiel lässt er sich auf gemeinsame Aktionen ein. Sport ist sein Lieblingsfach. Doch der Sonderpädagoge sieht gerade den Sportunterricht kritisch. Zu unstrukturiert, zu unübersichtlich – Gift für ein Kind mit der Diagnose des Jungen. Deshalb werden die Einzelförderstunden des Jungen auf die Zeiten des Sportunterrichts gelegt. Und auch sonst nimmt der Sonderpädagoge ihn so oft wie möglich aus der Klasse heraus. Der Junge mag das nicht. Als der Sonderpädagoge ihn im Musiksaal auffordert, mit ihm zu kommen, reagiert er nicht. Als der ihn am Arm ziehen will, schubst er ihn weg. Der Sonderpädagoge stolpert gegen ein Xylophon. Klangstäbe und Schlägel purzeln auf den Boden. Einige Kinder springen erschrocken auf. Am nächsten Tag müssen die Eltern zur Rektorin kommen. „Eine Katastrophe“ sei das mit dem Jungen, sagt sie. Die Musiklehrerin weigere sich, ihn weiter zu unterrichten. Und auch andere Lehrer hätten nach dem Vorfall gestern schwere Bedenken. „Ich habe schon mit dem Schulamt gesprochen“, sagt sie abschließend, „wir haben wirklich alles probiert. Aber so macht Inklusion keinen Sinn! Alles andere als die Sonderschule kommt für Ihren Sohn pädagogisch überhaupt nicht in Frage!“
Berufskundlicher Unterricht an der Gemeinschaftsschule. Heute geht es um Bewerbungen und den Lebenslauf. In der Klasse lernen auch einige junge Leute mit Behinderung. DAS MÄDCHEN ist unter ihnen. Es freut sich auf den Unterricht. Doch die Sonderpädagogin sagt: „Ihr kommt heute mit mir! Wir machen etwas anderes.“ Und gemeinsam mit den Schülern mit Behinderung geht sie aus dem Klassenraum in die Aula. Dort findet am Abend eine Aufführung statt. Die Schüler sollen die Stühle in Reihen aufstellen. „Warum das denn?“, fragt das Mädchen. „Ihr werdet ja auch alle später irgendetwas Praktisches machen. Da braucht ihr Übung. Und Durchhaltevermögen!“ sagt die Sonderpädagogin. Maulend schleppt das Mädchen zwei Schulstunden lang mit den anderen die Stühle hin und her. Auch in der nächsten Berufskunde-Stunde sollen die Schüler mit Behinderung wieder rausgehen. „Und was müssen wir heute machen?“, fragt das Mädchen. „Heute putzen wir Fenster!“, sagt die Sonderpädagogin, „die sind schon lange nicht mehr geputzt worden. Im Reinigungsgewerbe können einige von euch vielleicht einen Job finden.“ Das Mädchen verschränkt die Arme vor der Brust: „Ohne mich. Ich bleibe hier!“
Die Mutter sucht für DAS MÄDCHEN nach Freizeitaktivitäten. Dabei stößt sie auf ein „inklusives Kursprogramm“. Auf den Fotos sind überwiegend junge Leute mit Behinderung zu sehen. Sie blättert das Heft durch: „Wir backen gemeinsam Pizza“, „Sandwich – leicht gemacht“, „Ein Picknick im Garten unserer Einrichtung“… Immer nur essen? Das Mädchen hat sowieso schon einige Kilo Übergewicht. Beim letzten Termin hatte auch der Arzt gesagt, dass man hier ein bisschen aufpassen solle. Eigentlich sucht die Mutter auch etwas anderes. Etwas mit Bewegung an der frischen Luft, zum Ausgleich für die vielen Schulstunden drinnen sitzen: Wandern, klettern oder bootfahren, zum Beispiel. Das macht das Mädchen gern. Sie ruft beim Anbieter an und fragt, ob es auch so etwas gibt. „Nein, eigentlich nicht“, sagt die Leiterin, „so etwas wäre auch enorm aufwendig. Und ich bin skeptisch, ob das dann wirklich angenommen wird… Aber essen tun doch alle sehr gern! Da haben wir immer nur positive Rückmeldungen.“
Abschlussfeier in der Hauptschule. Auch DER JUNGE geht hier zur Schule, in eine Partnerklasse, die die Sonderschule hierhin ausgelagert hat. Alle Schülerinnen und Schüler sitzen in der großen Aula und sind gespannt auf das Programm der Feier. Auch die Schüler mit Behinderung sitzen in einer Reihe. Alle sind festlich gekleidet und haben sich richtig schick gemacht. Auch die Eltern des Jungen sind heute hier. Nach und nach werden alle Klassen auf die Bühne gerufen. Die Kinder erhalten ihre Abschlusszeugnisse. „Wann kommen denn die Schüler der Partnerklasse?“, fragt sich die Mutter des Jungen. Dann singt der Chor. Der Schulleiter verabschiedet die Hauptschüler und zeichnet die Jahrgangsbesten aus. Die Schüler der Partnerklasse werden nicht erwähnt. Die Mutter denkt: „Gleich platze ich! Ich geh nach vorne, schnapp mir das Mikrophon und sag was!“ Nur der warnende Blick ihres Mannes hält sie davon ab. Dann ist die Feier zu ende. „Komm, wir gehen jetzt wie besprochen schön essen“ sagt die Mutter zum Jungen und nimmt ihn in den Arm. „Warum hast Du das denn nicht mit den Lehrern vorher besprochen?“, raunt der Vater ihr beim Rausgehen zu. „Weil ich nie im Leben auf den Gedanken gekommen wäre, dass unsere Kinder heute überhaupt nicht berücksichtigt werden!“, raunt die Mutter zurück.