Die Mutter DES JUNGEN engagiert sich seit vielen Jahren in der Selbsthilfe. Immer wieder melden sich bei der Initiative Eltern, die mit ihren Kindern inklusive Wege in der Schule gehen wollen. Einmal war die Mutter des Jungen bei einem Runden Tisch zur Einschulung eines Mädchens. An diesen Termin erinnert sie sich gut, weil er wirklich schwierig war. Sie musste all ihr Wissen und Ihre Erfahrung einbringen, damit das Mädchen am Ende in die allgemeine Schule durfte. Die Mutter des Mädchens war sehr dankbar: Sie werde zum nächsten Treffen der Initiative kommen, versprach sie, ihre Erfahrungen teilen, die sie jetzt in der Schule machen werde, andere Eltern unterstützen. Sie hatte nie wieder etwas von sich hören lassen. Jetzt klingelt bei der Mutter des Jungen das Telefon. Die Mutter des Mädchens ist dran: „Die Schulzeit ist jetzt fast zu Ende, nächste Woche ist Bildungswegekonferenz“, sagt sie aufgeregt, „dafür brauche ich Sie wieder! Sie haben mir damals so toll geholfen!“ Die Mutter des Jungen ist sprachlos. Dann antwortet sie: „Das ist neun Jahre her! Wo waren Sie denn all die Jahre?“ „Komische Frage“, sagt die Mutter des Mädchens, „na, hier, in dem Ort, den Sie kennen. Da war ich.“
Die Mutter DES JUNGEN trifft eine Freundin von früher. Als die Söhne noch klein waren, hatten die Familien viel zusammen unternommen. „Ich hab wenig Zeit“, sagt die Mutter des Jungen, „ich muss noch packen. Ich will morgen wieder mit meinem Sohn zum Skifahren!“ „Ach ja“, sagt die andere Mutter, „Schnee mag ich ja auch sehr…“ „Früher ist dein Sohn doch auch Ski gefahren“, erinnert sich die Mutter des Jungen. „Macht er das gar nicht mehr?“ „Nein, nicht wirklich!“ Die andere Mutter erzählt: Ihr Sohn wohnt jetzt in einem Wohnheim. Da wird die Freizeit überwiegend gemeinsam organisiert. Meistens wird gespielt oder ein Film angesehen. Manchmal gibt es auch kleine Ausflüge. Doch schon ein Schwimmbadbesuch ist schwierig und bedarf viel Vorbereitung. Und immer wieder ist zu wenig Personal da. „Aber man kann eben nicht alles haben!“, fasst die andere Mutter zusammen. „Ich mache ja auch nicht immer am Wochenende, was ich wirklich will!“
Die Mutter DES JUNGEN trifft eine Bekannte. Die Söhne kennen sich von klein auf. Der Sohn der Bekannten ist in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. „Und wie läuft es bei euch?“, fragt die Mutter des Jungen. „Och, ganz gut, mein Sohn ist jetzt im Arbeitsbereich der Werkstatt. Er fühlt sich dort wohl.“ „Aber wolltet ihr nicht, dass er nach dem Berufsbildungsbereich einen Arbeitsplatz außerhalb der Werkstatt bekommt?“ „Ja, eigentlich schon. Man hatte uns ja gesagt: Alles ist offen! Wenn er einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt will, dann suchen die ihm einen. Ich muss mich nicht kümmern. Dafür haben sie Fachleute, Jobcoaches und andere…“ „Ja“, sagt die Mutter des Jungen, „ich erinnere mich. Ich habe damals gedacht: Warum mache ich das eigentlich alles selbst – die Suche nach einem Job, die vielen Praktika, der Kampf um die Fördermöglichkeiten.“ „… aber das war nicht so. Das war alles Quatsch. Nur Gerede“, erzählt die andere Mutter weiter. „Gar nichts haben die gemacht. Am Ende des Berufsbildungsbereichs haben sie gesagt: Der Arbeitsbereich ist genau richtig für ihn. Da ist er jetzt einer der Leistungsträger!“
Die Mutter DES JUNGEN ist bei einer Bekannten eingeladen. Die Gäste plaudern im Garten. Einige kennt sie, einige nicht. Sie erzählen sich von ihren Berufen. Auch eine Sonderpädagogin. „Also an unserer Schule ist es wirklich nicht mehr so schön wie früher!“, sagt diese. Nur noch die Schwerstbehinderten seien dort. Pflegebedürftig, nicht sprechend allesamt. „Ich vermisse diese Süßen mit Down-Syndrom so“, seufzt sie, „die haben richtig Leben in die Bude gebracht.“ Und ergänzt etwas säuerlich: „Aber die sind ja jetzt alle in der Inklusion!“ Die Mutter des Jungen sagt erst einmal nichts, sondern hört weiter zu. „Oder die, die eigentlich gar nichts hatten“, fährt die Lehrerin fort, „also, denen höchstens mal ein Finger fehlte. Mit denen konnte man so toll arbeiten! Die sind auch nicht mehr da.“ „Aber was ist die Lösung?“, fragt die Mutter, „dass die alle wieder zurückkommen?“ „Nein, ich weiß, dass das nicht klappt“, antwortet die Lehrerin, „aber mit der umgekehrten Inklusion könnten wir auch Nichtbehinderte aufnehmen. Und dann wäre bei uns auch wieder mehr Leben!“