„Bärchen“ ist unsere allererste Blog-Geschichte vom September 2016.
Warum sie hier heute noch einmal, neu illustriert, veröffentlicht wird, erklären wir in der nächsten Woche.
Heute gibt es das Diktat zurück. Alle schauen aufgeregt, welche Zensur sie bekommen haben. Sein bester Freund kommt zu ihm: „Und was hast Du?“ Er hält ihm das Blatt hin. Einen langen Text hat er nicht geschrieben. Dafür alle Namen der Klassenkameraden. Alle richtig geschrieben. „Janis“ hatte er besonders lange übt. Unter den Wörtern sind drei Bärchen aufgestempelt. Breit grinsende Bärchen. „Hä“, sagt sein Freund, „das issen das fürn Scheiß?“ Er zuckt mit den Achseln. Ein anderer Junge kommt dazu. Auch er schaut sich das Blatt an: „Du hast doch alles richtig“, sagt er, „dafür müsstest Du eine 1 bekommen.“ „Wart mal nen Moment“, sagt sein Freund. Sie warten, bis die Lehrerin sich umdreht. Heute bringt er stolz seine erste „1“ mit nach Hause. Groß und rot steht sie unter drei grinsenden Bärchen. Mit einer ziemlich unleserlichen und krakeligen Unterschrift. Wie Unterschriften halt so aussehen.
Der Weg an die allgemeine Schule war für DAS MÄDCHEN nicht leicht. Vor allem die Lehrer, allen voran der Direktor, waren sehr skeptisch. Doch die Eltern ließen nicht locker, und auch das Schulamt blieb klar. Einige Jahre ist das Mädchen nun schon dort. Es läuft gut. Die Eltern versuchen, alles richtig zu machen: Natürlich gehen sie zu jedem Elternabend oder Sprechtag, erfüllen alle Wünsche der Schule nach Begleitung oder zusätzlichem Material. Wenn sie sich einmal ärgern, dann nur leise. Immer versuchen sie, kooperativ zu sein. Nun hatte die Mutter den Direktor um einen Termin gebeten, um einiges für das nächste Schuljahr zu besprechen. Es war hin und her gegangen, bis endlich ein Tag vereinbart war. Doch ausgerechnet an diesem Tag hatte die Mutter den Termin total vergessen. Am Nachmittag klingelt das Telefon, und der Direktor beschwert sich laut und lange. „Es tut mir leid“, sagt die Mutter, „das kommt nicht wieder vor!“ Als sie auflegt, ist sie den Tränen nahe. „Ich habe es immer gewusst“, sagt sie zu ihrem Mann, „wir können uns hier keinen Fehler erlauben. Keinen einzigen!“
Die Mutter ist mit DEM JUNGEN beim Einkaufen im Supermarkt. Sie diskutieren lebhaft, was sie einkaufen und kochen wollen. Plötzlich stürmt eine ältere Dame auf die Mutter zu, nimmt deren Hand, legt ihre Hand darauf und sagt: „Das tut mir so leid!“ Die Mutter ist verwirrt. Der Junge auch. „Ich glaube, Sie verwechseln mich!“ „Nein, nein“, sagt die Dame, „es tut mir leid. So etwas ist sehr schwer. Ich wünsche Ihnen viel Kraft.“ „Ich verstehe das nicht“, versucht es die Mutter noch einmal und hat eine Idee: „Wir haben keinen Todesfall in der Familie!“ „Wissen Sie“, fährt die Dame fort und schaut den Jungen an, „meine Freundin hatte auch so ein Kind. Ich weiß, wie schwer das alles ist!“
DER JUNGE ist in einer berufsvorbereitenden Klasse. Gemeinsam mit anderen jungen Mädchen und Jungs mit Behinderung. Die Klasse soll auf eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt vorbereiten. Die Sonderpädagogen haben den Lehrplan überarbeitet und Schwerpunkte gesetzt. Vor allem Selbständigkeit ist ihnen wichtig. Beim Lernen, bei der Arbeit, auf allen Wegen. Alle Praktika sollen die Schülerinnen und Schüler selbständig erreichen. Deshalb haben sie für den Jungen den städtischen Bauhof ausgesucht. Dort soll er sich bewerben. Selbständig. „Wie soll das gehen?“, fragen die Eltern in einem Elterngespräch. „Na, er geht dahin, fragt sich zur Leitung durch und trägt dann vor, dass er dort ein Praktikum machen möchte“, sagen die Lehrer. „Aber er kann doch kaum ganze Sätze bilden“, wirft der Vater ein. „Und die meisten Menschen verstehen ihn erst, wenn sie ihn eine Weile kennen“, ergänzt die Mutter. „Er muss das können!“ Die Lehrer bestehen darauf. „Und wenn nicht?“, fragt die Mutter. „Dann ist er für den ersten Arbeitsmarkt nicht geeignet!“