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Gemeinsame Klasse

Die Mutter DES JUNGEN trifft eine ehemalige Nachbarin wieder. „Inzwischen bist du schon Oma und dein Enkel geht in die erste Klasse“, staunt sie.
„Ja“, antwortet die ehemalige Nachbarin, „und stell Dir vor: Mit ihm zusammen wurden vier geistig behinderte Kinder eingeschult. So richtig inklusiv. Meine Tochter und die meisten anderen Eltern waren zuerst alles andere als begeistert. Aber mittlerweile ist das in der gemeinsamen Klasse super organisiert. Da kommt stundenweise eine extra Lehrerin. Und zwei Betreuerinnen sind immer da, so dass die Behinderten meist als Gruppe für sich sind.“
„Eine gemeinsame Klasse ist das ja eigentlich nicht wirklich“, merkt die Mutter an. „Das hätte ich für meinen Sohn nicht haben wollen.“
„Es hat aber viele Vorteile, so wie die das machen“, entgegnet die Nachbarin: „Die Klassenlehrerin kann sich mehr um ihre eigentlichen Schüler kümmern. Die Behinderten sind unter ihresgleichen und auch gut versorgt. Außerdem: In den Fächern, wo das nicht so drauf ankommt, also Musik und Sport, sind wieder alle zusammen. Und auf dem Pausenhof.“

Acht Stunden

Die Mutter DES MÄDCHENS trifft eine andere Mutter.
Sie erinnert sich: Deren Sohn geht in die 5. Klasse.
Die allgemeine Schule wird von einer Sonderpädagogin unterstützt.
„Und, wie läuft es bei euch so?“, fragt sie.
„So mittel“, antwortet die andere Mutter.
„Die Schule fühlt sich mit der Inklusion und mit meinem Sohn ziemlich allein gelassen.“
„Wieso?“ fragt die Mutter nach, „hat das Schulamt nicht genügend Stunden bewilligt?“
„Doch eigentlich schon: Die Sonderpädagogin kommt für acht Stunden. Aber nur an zwei Tagen.“
„Damit kann man doch was anfangen, oder?“
„Na ja, nicht so wirklich. Sie ist nur eine Stunde in Mathe dabei und eine in Deutsch. Dafür in Religion Sport und Technik. Von Technik, sagt sie, hat sie aber keine Ahnung. Naturwissenschaften sind nicht so ihr Ding. Da sitzt sie nur dabei. Was sie in Sport macht, weiß ich nicht. Und in Religion sehe ich im Heft immer nur Kopien der Lieder und Bibeltexte, die alle Schüler lesen.“
„Und konnte man den Stundenplan nicht anders machen?
„Nein, angeblich nicht. Der Plan der Schule war schon fertig, als überhaupt klar war, welche Sonderpädagogin von welcher Schule kommt. An ihrer Schule ist die Sonderpädagogin auch noch Klassenlehrerin. Und bei Konferenzen an der Sonderschule darf sie auch nie fehlen.“

Kunst

Die Mutter DES JUNGEN ist aufgebracht:
„Schon wieder haben wir uns über den Förderplan gestritten – die Sonderpädagogin und ich“, erzählt sie in der Elterngruppe, „über die Förderziele in Kunst!“
„Über die Förderziele im Kunstunterricht?“, fragen die anderen Eltern erstaunt nach.
„Ja, genau“, berichtet die Mutter, „die Lehrerin möchte unbedingt, dass mein Sohn lernt, hübsche bunte Bilder zu malen. Das wird sie im Förderplan festhalten. Und dass er nicht am Ende, wenn sie gerade mal nicht hinguckt oder mit anderen Kindern beschäftigt ist, alles blitzartig schwarz übermalt.“
Ein paar der Eltern kichern.
„Das ist gar nicht zum Lachen“, sagt die Mutter streng, „so hat mir das die Sonderpädagogin erklärt, als ich gesagt habe, dass ich das eher lustig finde. Gerade für Geistigbehinderte sei künstlerischer Ausdruck sehr wichtig, weil sie ja meistens nicht gut lesen und schreiben lernen können. Deshalb ist das mit den Bildern das Förderziel Nummer 1 in diesem Schuljahr!“

Diskussionen

In der Elterngruppe gibt es heute viele Diskussionen.
Eine junge Mutter nennt ihr Kind „entwicklungsverzögert“ und „anders begabt“. Außerdem sei es so niedlich und reizend. Alle würden es lieben.
Eine andere Mutter mit einem Kindergartenkind sagt laut: „Mein Kind kann alles lernen! Deshalb will ich auch unbedingt Inklusion in der Schule!“
Die Eltern der älteren Kinder sind weniger laut.
Sie sprechen von „Kindern mit Behinderung“. Und sie sagen: Niedlich reicht nicht. Als Erwachsene sind viele unserer Kinder nicht mehr niedlich. Und sie müssen es auch nicht sein.
Nicht alle haben sprechen gelernt, nur einige wirklich gut lesen und schreiben.
„Aber ich habe schon gehört, dass manche Menschen mit Down-Syndrom einen Realschulabschluss geschafft haben“, wirft eine der jungen Mütter ein. „Und in Israel dürfen die sogar studieren!“
Die Mutter DES MÄDCHENS zuckt mit den Schultern: „Ich habe noch keinen dieser Menschen getroffen.“
„Aber deshalb will ich ja Inklusion: Weil meine Tochter so fit ist“, wirft die Mutter des Kindergarten-Kindes wieder ein.
„Nein“, sagt ein Vater ruhig, „ deshalb nicht. Sondern weil es ihr Recht ist. Und wie fit sie ist, spielt gar keine Rolle!“
