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Der Job

2018

DAS MÄDCHEN hat einen Job. Einen richtigen festen bezahlten Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. Es arbeitet in einem Altenheim.
Der Weg dahin war weit, auch für die Mutter des Mädchens:
Praktikumsplätze suchen.
Das Mädchen stärken und motivieren.
Immer wieder kleine und große Probleme lösen.
Einen Coach finden.
Rückschläge aushalten.
Umwege gehen.
Viele Anträge stellen.
Und an vielen Runden Tischen sitzen.
Doch nun ist es geschafft.
Bei der Weihnachtsfeier des Altenheims trifft sie die Leiterin.
„Ich wollte mich noch einmal ganz herzlich bei Ihnen bedanken!“, sagt die Mutter.
Die Leiterin sieht sie irritiert an:
„Wofür? Ich muss mich bei Ihnen bedanken, dass Sie so eine fantastische Mitarbeiterin zu uns gebracht haben!“

 

Die Geschichte vorgelesen …

Höflich

DER JUNGE MANN arbeitet seit einiger Zeit.
In der Elterngruppe wird die Mutter gefragt, wie es denn so läuft.
„Ach, eigentlich ganz gut“, sagt sie, „auch wenn es immer mal wieder kleinere Themen gibt.“
„Welche denn?“, fragt eine der Mütter zurück.
„Er will immer sehr höflich sein. Neulich hat er seinen Kolleginnen ein Kompliment über ihre Busen gemacht. Das fanden die natürlich nicht so witzig und haben mich gebeten, mal darüber mit ihm zu reden.“
„Das Thema Höflichkeit ist mir auch sehr wichtig“, sagt eine andere Mutter, „was hat dein Sohn denn dazu in der Schule gemacht?“
„Fast gar nichts“, antwortet die Mutter des Jungen, „immer wieder habe ich es angesprochen und in die Förderpläne schreiben lassen. Den Unterschied zwischen ‚Sie‘ und ‚du‘ hat er auch zu Hause gelernt. Nur einmal, vor einem Praktikum, hat die Klassenlehrerin dazu etwas mit der ganzen Klasse gemacht. Die Sonderpädagogen haben am Ende nur noch mit den Augen gerollt, wenn ich damit ankam.“
„Und warum?“, fragt die Mutter nach.
„Keine Ahnung. Ich hatte immer den Eindruck, die meinen, dass das nicht wichtig ist. In der Werkstatt braucht man das alles nicht. Und: Geistig Behinderte sind eben so, wie sie sind.“

Die Geschichte vorgelesen …

Schulpflicht

2017

Jedes Jahr vor den Sommerferien verschickt die Schulleitung ein Rundschreiben.
Darin steht:
Eltern dürfen die Ferien nicht eigenmächtig verlängern.
Bei einem Verstoß ist die Schule gezwungen, ein Ordnungswidrigkeitsverfahren einzuleiten.
In Extremfällen kann die Verletzung der Schulpflicht sogar mit Freiheitsstrafe geahndet werden.
DER JUNGE darf jetzt schon seit sechs Wochen nicht mehr in die Schule gehen.
Der Integrationshelfer ist ausgefallen.
Die Eltern suchen verzweifelt nach einer Lösung.
“Nein”, sagt der Schulleiter, “der eigene Vater als Krankheitsvertretung, das geht natürlich nicht.”
“Nein“, sagt der Sonderpädagoge, “wir können da nicht aushelfen, die Sonderschule hat keine Ressourcen, und ohne Begleitung kann das Kind den Unterricht eben nicht besuchen.”
“Nein”, sagt der Vertreter des Anbieters für Schulbegleitungen, “wir suchen ja, aber eine Krankheitsvertretung steht leider nicht zur Verfügung.”
“Nein“, sagt die Mitarbeiterin des Sozialamts, “wir können da nichts machen. Das ist Aufgabe des Anbieters. Wir zahlen nur.”
” Nein“, sagt das Schulamt,  “das ist eine schwierige Situation, lauter Sachzwänge… Wir wollen uns da nicht zu sehr einmischen.”
Das Rundschreiben haben die Eltern des Jungen in der Küche an die Pinnwand geheftet.

 

Die Geschichte vorgelesen …

Mehr

Elternabend in der dritten Klasse. Die Klassenlehrerin und der Sonderpädagoge sind ein gutes Team. Gemeinsam kümmern sie sich um alle Kinder. Das tragen sie auch so vor.
Es meldet sich der Vater eines Kindes ohne Behinderung: „Ich wollte mal fragen, warum es hier gar keine Schulbegleitungen gibt. Die Geistigbehinderten hätten doch einen Anspruch darauf, oder?“
Die Mutter DES MÄDCHENS will schon antworten. Doch der Sonderpädagoge kommt ihr zuvor:
„Weil wir gar keinen Bedarf sehen. Wir kommen hier zu zweit in der Doppelbesetzung ganz prima zurecht.“
Damit ist das Thema erst einmal vom Tisch.
Nach Ende des Elternabends hört die Mutter des Mädchens, wie einige Eltern noch auf dem Gang weiter diskutieren:
„Keinen Bedarf, naja“, sagt eine Mutter halblaut, „wenn die Behinderten alle ihre eigenen Betreuer hätten, dann könnten sich beide Lehrer mehr um unsere Kids kümmern. Bei ihnen kommt es doch jetzt drauf an. Die Grundschulempfehlung ist nicht mehr weit!“

Die Geschichte vorgelesen …

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