Ganz groß

Seit vielen Jahren möchte DER JUNGE bei einem Verein in seinem Heimatort mitmachen.
Die Mutter war bislang immer skeptisch.
Doch nun fragt der Junge sie wieder und endlich telefoniert sie und erkundigt sich.
Eine Begleitung brauche ihr Sohn im Verein nicht, trägt sie vor, nur jemand, der ihn ein bisschen einführt und sich am Anfang kümmert. Vielleicht so eine Art Pate. Auch Barrierefreiheit sei kein Thema. Vielleicht könne ihn mal jemand an die Hand nehmen, aber das sei nur manchmal nötig.
Der Jugendwart des Vereins hört sich alles an und verspricht, sich wieder zu melden.
Nach ein paar Tagen ruft er zurück: „Das ist gar kein Problem, dass Ihr Sohn mitmacht“, sagt er fröhlich, „wir haben das im Vorstand besprochen: Wir ziehen das ganz groß auf, als Inklusions-Projekt. Da gibt es ja bestimmt auch noch andere Behinderte, die Interesse hätten. Dann wollen wir einen Assistenz-Pool aufbauen, Fortbildungen organisieren, inklusive Gruppen einrichten und natürlich auch Öffentlichkeitsarbeit machen. Wir melden uns wieder!“
Die Mutter bedankt sich. Dann geschieht lange nichts. Nur der Junge fragt weiter nach.
Und irgendwann auch die Mutter.
Der Jugendwart erklärt: „Nein, so schnell geht das nicht! Wir haben das jetzt als Jahresthema 2025 geplant. In diesem Jahr ist so viel anderes. Aber dann wird das ganz groß!“

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Hausschuhe

2017

Der Träger der Behindertenhilfe feiert.
Am Ortsrand, zwischen Einkaufszentrum und Gewerbegebiet, ist eine neue Zweigstelle entstanden.
Es gibt dort eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung, ein Wohnheim und Appartements für betreutes Wohnen.
Die Eltern DES MÄDCHENS nutzen den Tag der Offenen Tür, um sich den Komplex genauer anzuschauen.
Die Werkstatträume sind modern und hell mit großen Fenstern.
Es gibt eine Cafeteria und einen Hof mit Blumenwiese und Gartenbänken hinter dem Haus.
„Super, nicht wahr?“ Die Mitarbeiterin, die die Eltern herumführt, ist begeistert: „Und schauen Sie sich das hier an: Der Ausgang des Wohngebäudes und der Eingang zur Werkstatt sind nur ein paar Meter auseinander. Wir müssen nur noch ein Glasdach über den Weg bauen, dann können die Bewohner in Hausschuhen zu ihrem Arbeitsplatz kommen. Ist das nicht wunderbar für Ihre Tochter, wenn sie erwachsen ist?“
Die Eltern sagen erst einmal nichts.
„Unsere Tochter wird sicherlich später viel Hilfe brauchen“, sagt die Mutter schließlich, „aber wir möchten, dass sie mehr von der Welt sehen darf als nur das, was man mit Hausschuhen erreichen kann.“

 

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Schulabschluss

Die Tante DES JUNGEN MÄDCHENS ist stolz. Gemeinsam mit den Eltern und anderen Verwandten beklatscht sie den Hauptschulabschluss des Mädchens. In der Aula. Bei einer großen Feier.
Dieser Tag war lange nicht in Sicht gewesen. „Der Leistungshorizont der Grundschule ist für das Kind nicht erreichbar“, hatte ein Gutachter schon vor der Einschulung festgestellt. Also: Ab in den Kleinbus in die Förderschule im Nachbarort. Auch die Tante hoffte damals an dieser besonderen Schule auf besonders intensive Unterstützung. Stattdessen bekam das Mädchen immer weniger Lernstoff und immer weniger Kontakt zu den Nachbarskindern.
Da begannen sich die Tante, die Eltern und ein Rechtsanwalt mit dem Schulamt zu streiten, und zwar solange, bis das Mädchen an die Grundschule wechseln durfte.
Das Mädchen war fleißig und ausdauernd und noch immer nicht die beste Schülerin. In der Abschlussprüfung fielen ihr Mathematik und Textinterpretation wirklich schwer. Aber sie hatte schon ein Praktikum im Supermarkt gemacht und dort überzeugt. Wieder durch Fleiß und Ausdauer. Jetzt hat sie nicht nur das Abschlusszeugnis in der Hand, sondern auch schon einen Ausbildungsplatz in der Tasche.
Und die Tante sitzt in der Aula und lächelt. Nur einmal schüttelt sie kurz den Kopf, als sie an den Gutachter denkt.

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Mamas Seele

 

2017

Die Mutter DES JUNGEN ist geschafft.
Heute war einfach alles zu viel.
Die sonderpädagogische Versorgung an der allgemeinen Schule, in die der Junge geht, ist im nächsten Schuljahr wieder mal völlig ungeklärt.
Dann hat sie heute lange mit einer anderen Mutter diskutiert, deren Kind mit Behinderung in einer Sondereinrichtung lebt. Begründung: Es soll nicht den Blicken der Menschen auf der Straße ausgesetzt sein.
Und dann ist abends, als die Mutter sich im Garten etwas entspannen wollte, eine Brombeere beim Pflücken direkt auf ihre helle Hose gefallen.
Nun sitzt sie frustriert am Küchentisch.
Der Junge kommt mit seinem Kinder-Arztkoffer. Er will helfen: Er guckt der Mutter in die Ohren, horcht sie ab und prüft mit dem Hammer die Reflexe.
Er findet nichts. „Wo bist du denn krank?“, fragt er die Mutter.
„Nicht am Körper, Schatz“, sagt die Mutter, „ein bisschen an der Seele.“
Da holt der Junge ein großes Pflaster aus der Küchenschublade, geht damit zur Mutter und klebt es ihr mitten auf den Bauch.
„Da sitzt Mama Seele?“, fragt der Vater lachend, als er in die Küche kommt, „bist du sicher?“
„Ja!“, sagt der Junge entschieden.
Am nächsten Morgen geht es der Mutter wieder deutlich besser.

 

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