Lesen

Ein Nixklusionsmännchen hinter einem Buch, das ein bisschen wie ein Schmetterling aussieht.

DAS MÄDCHEN ist gerade in die vierte Klasse gekommen.
Jetzt weigert es sich, zu Hause Leseübungen zu machen.
Es wirft seine Fibel vom Tisch, weint und schluchzt: „Nicht lernen, nicht lesen, ich dumm, so dumm!“
Die Mutter versteht die Welt nicht mehr.
Was ist passiert? Ob andere Kinder das Mädchen vielleicht ausgelacht haben?
Sie bringt das Mädchen am nächsten Tag zur Schule und passt vor dem Lehrerzimmer die neue Lehrerin ab.
„Nein, die anderen Kinder lachen nicht“, beruhigt diese die Mutter, „das hätte ich mitbekommen! Aber ich habe schon, seit ich hier bin, das Gefühl, dass Ihre Tochter mit dem Konzept des sinnentnehmenden Lesens überfordert ist.“
„Was heißt das?“, fragt die Mutter überrascht nach. „Sie mag Bücher, und Lesen auch, auch wenn es ihr noch schwer fällt. Aber sie hat da schon so viel gelernt. In ihrem Tempo natürlich.“
„ Ach, wissen Sie“, antwortet die Lehrerin, „das redet man sich als Elternteil ja gerne ein. Da wird ein ganzes Schülerleben geübt, und am Ende können die jungen Leute doch kein normales Buch oder einen Zeitungsartikel lesen. Ich gehe das anders an. Das habe ich auch diese Woche schon mit ihrer Tochter besprochen: Die Fibel brauchen wir nicht mehr. Wir lesen jetzt Alltagsschilder und Beschriftungen: Toilette, Ausgang, Kasse – solche Sachen eben.“
Und als die Mutter überrascht schweigt, fügt sie hinzu: „Mit der Umgewöhnung tut sich Ihre Tochter eben noch ein bisschen schwer!“

Die Geschichte vorgelesen …

9 Kommentare

  1. Svenja B. sagt:

    Beim lesen der Geschichte und der Beiträge kommen einem die Tränen

  2. Anonymous sagt:

    Meine Tochter liest zwar langsamer, aber sie liest. Das sah die Lehrerin anders und immer wenn die Klasse einer nach dem anderen an einer Geschichte laut las, sprang die Lehrerin immer zum nächsten Kind, so dass meine Tochter nur zuhören durfte.
    Dann war Schulbesuchstag. Hier dürfen die Eltern beim Unterrichten zuschauen. Das Kind vor meiner Tochter las seine 2 Sätze. Dann forderte die Lehrerin das Kind nach meiner Tochter auf. Dieses blickte zu mir und meiner Tochter. Ich nickte meiner Tochter ermutigend zu. Und meine Tochter las stolz und mit Freude ihre beiden Sätze.
    Die Lehrerin schaute teilnahmslos. Und die Mitschülerinnen und Mitschüler? Sie klatschen laut und riefen, wow du kannst ja lesen. Super!
    Den Rest des Schuljahre wurde sie wieder übersprungen. Schade.

    • Juliane sagt:

      Das ist so traurig. Sozial- bzw. Pädagogikkompetenz bei den unstudierten Kindern um ein Vielfaches größer als bei der Lehrkraft. Wenn möglich ansprechen, bei der Lehrkraft, Erziehern, Schulleitung?

    • Anonymous sagt:

      Ja, sehr schade!!!!
      Aber das andere Kind, das war ja richtig toll! Und Sie als Mutter. Und Ihre Tochter natürlich auch.
      Ich denke, viele Lehrkräfte fühlen sich mit dem Thema Inklusion einfach überfordert. Sie empfinden es als aufgezwungen, und sie bekommen zu wenig Unterstützung. Und: Unterrichten ist viiiiiel anstrengender, als es aussieht. Die viele Arbeit im Hintergrund, dass es gut läuft, wird gar nicht gesehen. Genauso wie bei uns Müttern.

  3. Juliane sagt:

    Hat die Lehrkraft schon mal was von einfacher Sprache gehört? Warum muss jemand „normale“ Bücher und Artikel lesen können?

    • Anonymous sagt:

      Genau. Lehrende sind meist Frauen, Mütter immer ;-). Die Arbeit bzw. Leistung von Frauen wird zu wenig gewertschätzt und gewürdigt

  4. Juliane sagt:

    Aber Schilder lesen ist sinnentnehmendes Lesen? Das wüsste ich aber. Da erkennt man doch nur Wort-Bilder. Wie kann man denn ein Kind in der 4. Klasse schon „aufgeben“?!?!?

    • Chaoskatz sagt:

      Sobald das Kind den Stempel „behindert“ hat, IST es aufgegeben. Von den Allermeisten. Und ja, auch von den allermeisten achso-Sonderpädagog_innen. Sonderpädagogik ist oftmals nur aussondernde Pädagogik – ein „erfülltes Leben“ in Heim und „beschützter Werkstatt“ winkt!

    • DeckenanhebenauchimEinzelfall sagt:

      fast genau so schlimm – aber genauso wahr: Kind war fast davor kurze einfache Sätze und Texte korrekt zu lesen. Dann kam leider die Pandemie und die Berufsschulstufe eines FZ gE.
      Das weitere Vertiefen von Kulturtechniken sieht man dort nicht mehr als Lerninhalt an. Alltagspraxis halt. Hinweise auf die Beschreibung der Lerninhalte in der SCHO. Antwort: nur weil das dort geschrieben steht, muss man das doch nicht machen. Die Schulordner sind leer, kaum sichtbaren Arbeitsunterlagen, keine Bücher aber Alltagspraxis. Keine Ansätze zum gemeinsam Brücken bauen. Ob der gesunde Menschenverstand der Gesellschaft mit diesem Handeln einverstanden wäre?

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