In der S-Bahn

„Hallo!“
Die Mutter dreht sich um. In der S-Bahn neben ihr steht DER JUNGE MANN.
Sie kennt ihn noch als Jungen, der mit ihrer Tochter in einer Klasse war.
In der 5. Klasse hatten sich ihre Wege getrennt: Während ihre Tochter weiter inklusiv beschult wurde, kehrte der Junge an die Sonderschule zurück.
„Das ist ja schön, Dich zu sehen!“, sagt sie. Und ergänzt: „Ich darf doch noch „Du“ sagen, oder?“
„Klar“, der junge Mann lacht. „Wo fahren Sie denn hin?“
Die Mutter erklärt, wo sie hin muss und wie sie fahren will. Sie hat heute ein Seminar etwas weiter weg.
Noch während sie antwortet, runzelt der junge Mann die Stirn.
„Zu kompliziert“, sagt er. Dann zieht er sein Handy hervor, öffnet eine App, tippt in rasender Geschwindigkeit etwas ein und erklärt ihr dann:
Wenn sie die nächste Station schon aussteigt, spart sie sich einmal das Umsteigen. Und früher da ist sie auch noch.
Die Mutter ist beeindruckt und bedankt sich.
Dann fragt sie: „Und Du, wohin fährst Du?“
„Ich fahre in die Werkstatt“, sagt der junge Mann.
In die Werkstatt für Menschen mit Behinderung.

Die Geschichte vorgelesen …

Ein Kommentar

  1. Fan des Illustrators sagt:

    Grandios!
    Eine Geschichte wird erzählt – ganz unbeschwert – und zeigt auf diese Weise die Absurdität unseres sozialen Systems in Deutschland auf.
    Ein Arbeitsersatzsystem (WfbM) wird mit viel Aufwand für eine Personengruppe geschaffen, der man es nicht zutraut auf dem 1. Arbeitsmarkt zu bestehen.
    Das entstandene System funktioniert aber nicht mit der Personengruppe, die als „voll erwerbsgemindert“ bezeichnet wird und für die das System geschaffen wurde.
    Also werden Menschen gesucht, die nicht als „voll erwerbsgemindert“ gelten, die aber bereit sind, diesen Status gegen vermeintliche Vorteile zu erwerben.
    Die Begegnung der Mutter und dem fiten Werkstattbeschäftigten findet im Zug statt.
    Dies ist abgesehen von der reizvollen Zeichnung ein cleverer Schachzug!
    Denn er suggeriert uns einen Vergleich des starren Schienenverkehrssystems mit unserem bizarren
    Gesellschaftssystem.
    Können wir bremsen? Rückwärtsfahren? Umkehren? Oder eine enge Kurve fahren?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert