Die Verweigerung

„Und dann muss ich mit Ihnen darüber sprechen, dass sich Ihr Sohn in letzter Zeit immer häufiger verweigert!“
Die Mutter DES JUNGEN erschrickt, als die Sonderpädagogin das im Förderplangespräch sagt.
Es geht um Arbeitsblätter, die der Junge nicht bearbeiten will. Die Lehrerin nennt ein paar Beispiele.
So langsam dämmert es der Mutter:
„Das sind die Blätter, die mein Sohn schon mal gemacht hat, oder?“, fragt sie.
Denn sie erinnert sich, dass die Sonderpädagogin in letzter Zeit immer wieder Blätter mitgebracht hatte, die der Junge schon kannte. Manchmal hatte er sie erst vor ein paar Wochen bearbeitet, manchmal schon vor Jahren. Immer wieder hatte er sie gleich wiedererkannt und gesagt: „Hab ich schon“ oder „kenn ich schon“ oder auch „kann ich schon“.
Ein zweites Mal wollte er die Blätter auf keinen Fall ausfüllen.
Die Mutter trägt all das vor.
„Alle anderen behinderten Schüler haben kein Problem damit“, sagt die Sonderpädagogin sichtlich eingeschnappt.
„Ihr Sohn ist da wirklich sehr anspruchsvoll.“

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Prognosen

2017

Die Mutter bekommt ein kleines Video per WhatsApp geschickt.
Direkt von der Abschlussfahrt DES JUNGEN.
Zu sehen ist eine hohe Brücke über einem rauschenden Fluss.
Unter der Brücke hängen in gut zwanzig Meter Höhe an Seilen viele bunte Punkte, die sich bewegen.
Es sind, gut gesichert und mit Helm, die Kinder der Klasse. Ganz rechts der lila Punkt ist der Junge.
Adventure-Tour als Vorbereitung auf einen neuen Lebensabschnitt. Viel Action, viel Outdoor, Erlebnispädagogik.
Die Mutter denkt zurück:
An den Gynäkologen, der dem Jungen wegen seines Herzfehlers das Leben und Leiden ersparen wollte.
An die Nachbarn, die prophezeiten, ein behindertes Kind würde die Ehe zerstören und sei doch auch furchtbar für den älteren Bruder.
An die Kindergartenleiterin, die den lange zugesagten Platz über Nacht kündigte, weil der Junge mit drei Jahren noch nicht alleine laufen konnte.
An den Grundschullehrer, der sich für überfordert erklärte, den Jungen in die Fußball-AG aufzunehmen.
Dann lässt sie das Handy sinken.
Wer es da hoch schafft, der schafft es auch noch viel weiter.  Da ist sie sich ganz sicher.
Und ist für ein paar Momente einfach nur glücklich und stolz.

 

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Ganz groß

Seit vielen Jahren möchte DER JUNGE bei einem Verein in seinem Heimatort mitmachen.
Die Mutter war bislang immer skeptisch.
Doch nun fragt der Junge sie wieder und endlich telefoniert sie und erkundigt sich.
Eine Begleitung brauche ihr Sohn im Verein nicht, trägt sie vor, nur jemand, der ihn ein bisschen einführt und sich am Anfang kümmert. Vielleicht so eine Art Pate. Auch Barrierefreiheit sei kein Thema. Vielleicht könne ihn mal jemand an die Hand nehmen, aber das sei nur manchmal nötig.
Der Jugendwart des Vereins hört sich alles an und verspricht, sich wieder zu melden.
Nach ein paar Tagen ruft er zurück: „Das ist gar kein Problem, dass Ihr Sohn mitmacht“, sagt er fröhlich, „wir haben das im Vorstand besprochen: Wir ziehen das ganz groß auf, als Inklusions-Projekt. Da gibt es ja bestimmt auch noch andere Behinderte, die Interesse hätten. Dann wollen wir einen Assistenz-Pool aufbauen, Fortbildungen organisieren, inklusive Gruppen einrichten und natürlich auch Öffentlichkeitsarbeit machen. Wir melden uns wieder!“
Die Mutter bedankt sich. Dann geschieht lange nichts. Nur der Junge fragt weiter nach.
Und irgendwann auch die Mutter.
Der Jugendwart erklärt: „Nein, so schnell geht das nicht! Wir haben das jetzt als Jahresthema 2025 geplant. In diesem Jahr ist so viel anderes. Aber dann wird das ganz groß!“

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Hausschuhe

2017

Der Träger der Behindertenhilfe feiert.
Am Ortsrand, zwischen Einkaufszentrum und Gewerbegebiet, ist eine neue Zweigstelle entstanden.
Es gibt dort eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung, ein Wohnheim und Appartements für betreutes Wohnen.
Die Eltern DES MÄDCHENS nutzen den Tag der Offenen Tür, um sich den Komplex genauer anzuschauen.
Die Werkstatträume sind modern und hell mit großen Fenstern.
Es gibt eine Cafeteria und einen Hof mit Blumenwiese und Gartenbänken hinter dem Haus.
„Super, nicht wahr?“ Die Mitarbeiterin, die die Eltern herumführt, ist begeistert: „Und schauen Sie sich das hier an: Der Ausgang des Wohngebäudes und der Eingang zur Werkstatt sind nur ein paar Meter auseinander. Wir müssen nur noch ein Glasdach über den Weg bauen, dann können die Bewohner in Hausschuhen zu ihrem Arbeitsplatz kommen. Ist das nicht wunderbar für Ihre Tochter, wenn sie erwachsen ist?“
Die Eltern sagen erst einmal nichts.
„Unsere Tochter wird sicherlich später viel Hilfe brauchen“, sagt die Mutter schließlich, „aber wir möchten, dass sie mehr von der Welt sehen darf als nur das, was man mit Hausschuhen erreichen kann.“

 

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