Selbständig
DER JUNGE ist in einer berufsvorbereitenden Klasse.
Gemeinsam mit anderen jungen Mädchen und Jungs mit Behinderung.
Die Klasse soll auf eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt vorbereiten.
Die Sonderpädagogen haben den Lehrplan überarbeitet und Schwerpunkte gesetzt.
Vor allem Selbständigkeit ist ihnen wichtig.
Beim Lernen, bei der Arbeit, auf allen Wegen.
Alle Praktika sollen die Schülerinnen und Schüler selbständig erreichen.
Deshalb haben sie für den Jungen den städtischen Bauhof ausgesucht.
Dort soll er sich bewerben.
Selbständig.
„Wie soll das gehen?“, fragen die Eltern in einem Elterngespräch.
„Na, er geht dahin, fragt sich zur Leitung durch und trägt dann vor, dass er dort ein Praktikum machen möchte“, sagen die Lehrer.
„Aber er kann doch kaum ganze Sätze bilden“, wirft der Vater ein.
„Und die meisten Menschen verstehen ihn erst, wenn sie ihn eine Weile kennen“, ergänzt die Mutter.
„Er muss das können!“ Die Lehrer bestehen darauf.
„Und wenn nicht?“, fragt die Mutter.
„Dann ist er für den ersten Arbeitsmarkt nicht geeignet!“
Das scheint ja eine ganz fiese List zu sein „ Zeigen wir ihm mal, dass er nicht geeignet ist, dann wird er schon freiwillig zur Werkstatt gehen“.
Mich würde es auch brennend interessieren, ob er sich dann in der Werkstatt auch ganz alleine bewerben musste.
@ A.W. Das ist toll. So soll es sein.
Ich denke auch die meisten Abiturienten lassen sich zumindest ihr Bewerbungsschreiben von den Eltern noch durchlesen. Jeder so viel Hilfe wie er braucht.
@ Stellapolaris
Hilf mir es selbst zu tun.
Ja, es ist manchmal eine Herausforderung nicht zu viel und nicht zu wenig Hilfe anzubieten, aber in diesem Fall ist es kein Versuch die Selbstständigkeit zu fördern, sondern ein Versuch die Hilflosigkeit aufzuzeigen.
Ich arbeite seit 15 Jahren in der beruflichen Rehabilitation. Wir erleben wirklich nur im Ausnahmefall, dass Unternehmen bereit sind Menschen mit selbst kleinen „Einschränkungen“ einzustellen. Trotz finanzieller Unterstützung. Soviel zum Thema „geeignet für den 1. Arbeitsmarkt“.
Letztendlich können die Lehrenden in der Geschichte es für diese Seite eh nicht richtig machen. Wenn sie den Klienten jetzt begleitet hätten, hätte die Geschichte hier den Titel „Bevormundung“ und den Tenor, dass Menschen mit Behinderung gar nichts zugetraut wird.
Als Mutter einer behinderten Tochter u.a. mit selektivem Mutismus und gerade händeringend auf der Suche nach einem Praktikumsplatz macht mich diese Geschichte sehr betroffen und traurig.
Ein lieber Gruß aus der Personalabteilung eines Unternehmens des ersten Arbeitsmarktes: Bei uns kommen
-Abiturient_innen
-Berufsanfänger_innen
-Hilfskräfte
-Fahrzeug- bzw. Führerscheinlose
-und viele mehr
mit Elternteil, Partnerperson oder Begleitung um nach Arbeit zu fragen. Das macht uns nichts aus. Das ist Okay. Wer Hilfe braucht, das zugibt und die Hilfe auch in Anspruch nimmt – ja, darüber hinaus zeigt, dass er/sie ein soziales Netz hat, das sich kümmert – ist keine Last. Und ein gutes Unternehmen wird den Bewerbern das auch nicht negativ auslegen.
Ja, und die junge Frau im Rollstuhl wird dann zu einem Büro im 2. Stock geschickt, das nur über eine Treppe erreichbar ist. Da kommt sie nicht hoch? Dann ist sie nicht fit für den ersten Arbeitsmarkt. Das kann doch nicht wahr sein, dass schon die Lehrer mit so einer Einstellung da ran gehen.
Ey, und wenn er nicht selbstständig das Anmeldeformular für die WfbM ausfüllen kann, ist er dafür auch nicht geeignet.
Dann wird er vielleicht lieber hauptberuflich Klimaaktivist oder Insta-Inklusions-Influencer oder Gärtner in einer Solidarische Landwirtschaft oder Mitglied im Stadtparlament. ✊