Vier Reisen

DER JUNGE ist erst vor kurzem aus einem anderen Bundesland zugezogen. Das Gymnasium hatte ihn wegen seines Rollstuhls nur widerwillig aufgenommen – obwohl dem Jungen das Lernen leicht fällt und er dabei ist, ein sehr gutes Abitur zu machen.
Doch jetzt geht es erst einmal um die Planungen für die Abiturfahrt: Kultur, Shopping und Clubs in verschiedenen europäischen Metropolen steht jedes Jahr auf dem Programm. Auch für diesen Jahrgang. „Wir haben wieder ganz tolle Reiseziele gefunden!“ Stolz präsentiert die Leiterin der Oberstufe sie an einem Informationsabend: „Côte d‘ Azur mit Cannes, Nizza, und Monaco“ – „Berühmte Bauten und das Nachtleben in Barcelona“ oder:“Dublin zwischen Guinness und Klippen“.
„Ach ja“, ergänzt sie dann, „wie ihr wisst, müssen wir diesmal auch eine barrierefreie Reise anbieten. Das kann natürlich keine Flugreise ins Ausland sein. Daher ist die vierte Möglichkeit: Berlin mit Reichstag und deutschem Theater.“
Und dann erklärt sie den weiteren Ablauf:
„Bis in vier Wochen müsst ihr euren Reisewunschzettel ausgefüllt abgeben. Die drei Reisen, die die meisten Stimmen bekommen haben, könnt ihr dann anschließend verbindlich buchen. Viel Spaß beim Aussuchen!“
Dann geht sie schnell zum Jungen und sagt zu ihm: „Das hast du verstanden, oder? Du brauchst natürlich keinen Zettel auszufüllen!“
„Das verstehe ich nicht“, sagt der Junge, „warum gehen denn Flugreisen nicht? Ich war sogar schon in Amerika!“
„Nein“, sagt die Lehrerin bestimmt, „das haben wir alles schon im Team besprochen. Wir können fürs Ausland unmöglich alles vorher abklären. Wie willst du denn hochkommen, wenn da irgendwo plötzlich Treppen sind? Falls die barrierefreie Reise zustande kommt, kannst du die dann ja buchen!“

Die Geschichte vorgelesen …

13 Kommentare

  1. Inklusine sagt:

    Wo – in Berlin oder in Bielefeld?

  2. Anonym sagt:

    Wie haben wir das nur im Jahr 1993 gemacht …

    … normales Gymnasium, zwei Rollifahrer (1x Dysmelie) und ein Resthöriger – das hat auch ohne Pflegebegleiter geklappt, mit Freundinnen halt …

    … Paris, mit dem Bus …

    … und die Londonfahrer ohne "besondere" Leute sind auch nicht geflogen!

  3. Anonym sagt:

    Eine fünfte Reise
    Eine Gruppe von Lehramts-Studierenden an der Hochschule will sich auf einen fördernden Umgang mit Heterogenität an Schulen vorbereiten. Es sollen gute inklusive Schulen besucht, Herausforderungen hautnah erlebt und Erfahrungen ausgetauscht werden. Die Beteiligten entscheiden sich, eine Studienreise nach Berlin und Bielefeld zu machen. Es hat Studierende mit Migrationshintergrund, eine Lehrerin mit Multipler Sklerose (im Rollstuhl) und eine Studentin mit schwerer Diabetes mit dabei. Ein Mitglied der Gruppe kann die Reisekosten nicht vollständig bezahlen, weil dieses sich in einer schweren familiären Krise befindet. Eingeladene Hochschullehrer und eine Bildungspolitikerin machen die Gruppe noch heterogener und anregender.
    Die Reise wird gemeinsam geplant. Die Gruppe bewegt sich ausschließlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Ein Stadtrundgang zum Thema „Hier wird Vielfalt als Chance genutzt“ macht weitere interessante Begegnungen möglich. Alle Teilnehmenden erfahren, mit welchen Barrieren und Umwegen zu rechnen ist. Sie lernen viele engagierte Menschen und hilfreiche Angebote kennen, die das gemeinsame Leben und Lernen möglich machen.

  4. Fan des Illustrators sagt:

    Aus unserer Erfahrung geht die Geschichte so weiter:

    Die Klasse fährt nach Berlin.
    Und es wird eine tolle Reise!
    Der Junge ist mitten dabei und seine Mitschüler achten darauf, dass er alles mitmachen kann.

  5. Anonym sagt:

    Eine ähnliche Situation hatte meine Tochter in ihrer Klasse(Gymnasium) erleben müssen. Eine Klassenkollegin hat Epilepsie. Es ging allerdings nicht um Reiseziele in europäischen Metropolen, sondern Städte in Deutschland.Die Reiseziele wurden aber von der Schulbehörde vorgeschrieben.Die Kinder haben dann ein Reiseziel ausgesucht, dass das Mädchen mit Epilepsie ausgesucht hatte. Und warum? Weil diese Kinder von den Pädagogen der Klasse aufgeklärt worden sind ! Weil die Schule sich für Inklusion einsetzt! Inklusion bedeutet die Kinder so zu nehmen wie sie sind. Die Gesellschaft hat sich an das Kind anzupassen und nicht andersrum!

  6. Anonym sagt:

    Antwort an Claudia.Wie die Fortsetzung der Geschichte aussieht, können wir doch alle erahnen. Die Kinder werden sich für die europäischen Metropolen entscheiden.Sie werden höchstwahrscheinlich keine Rücksicht auf den Jungen im Rollstuhl nehmen! Es steht in der Geschichte oben geschrieben!“ Das Gymnasium hatte ihn(den Jungen) wegen seines Rollstuhls nur WIDERWILLIG aufgenommen“. Der Junge ist von den Pädagogen dort nicht erwünscht! Die Kinder in der Klasse haben keine Schuld, wenn sie keine Rücksicht auf den Jungen im Rollstuhl nehmen.Sie wurden so erzogen! Was Toleranz und Akzeptanz bedeutet, lernen die Kinder in den Schulen von Pädagogen oder Zuhause durch die Erziehungsberechtigten.Das was sie lernen, werden sie dann im Erwachsenenalter weiter geben. Es ist leider wie ein Teufelskreis , der nie endet!

  7. Anonym sagt:

    Ich lese diese Kolumne regelmäßig und zwar regelmäßig kopfschüttelnd…
    Auch diesmal wieder – und auf die Fortsetzung wäre ich auch sehr gespannt!

    Susanne (die auch in der Inklusion unterwegs ist und dort auch viel mit dem Kopf schüttelt ;-))

  8. Anonym sagt:

    Ich schließe mich hier an : die Fortsetzung zu erfahren, wäre wirklich interessant ! LG

  9. Anonym sagt:

    Auch wenn es jetzt nicht 100% zum Thema gehört, will ich es trotzdem anmerken. Ich finde es höchst befremdlich, dass Abiturienten heutzutage anscheinend all inclusive Flugreisen in eher hochpreisige Metropolen unternehmen müssen und Berlin als langweiliger barrierefreier Trostpreis verkauft wird. Exkludiert wird doch dabei nicht nur der JUNGE, sondern auch alle, die es sich finanziell nicht leisten können bzw. Eltern irgendwie das Geld zusammenkratzen, um ihrem Kind das zu ermöglichen.
    @Claudia: Von meiner Warte aus sollten alle nach Berlin fahren, wie junge und alte Leute aus der ganzen Welt. Aus ökologischen, finanziellen und vor allem solidarischen Gründen. Ich bin Berlinerin und finde die Stadt allerdings nicht so super barrierefrei…

  10. Claudia sagt:

    Mich würde interessieren, wie die Mitschülerinnen und Mitschüler reagieren. Solidarisch? "Dann fahren wir eben alle nach Berlin"? Oder: "Ohne DEN JUNGEN fahren wir gar nicht"? Oder, merkelinisch: "Wir fahren alle ins Ausland, das schaffen wir schon"? Bin gespannt auf eine Fortsetzung.

  11. Rosa sagt:

    Hoffentlich sind die Mitschüler besser drauf als der Lehrer. In einer Abiturklasse müssten sich doch ein paar kräftige Jungs finden, die ihren Klassenkameraden auch mal eine Treppe hochtragen, wenn es wirklich nicht anders geht.

  12. Anonym sagt:

    Ich dachte, Oberstufenschüler werden gesietzt.
    Dem Jungen ist zu empfehlen, sich mit den Handballern und Kugelstoßern seiner Klasse zusammenzutun, die ihn dann in Dublin, Barcelona oder Monaco zum Entsetzen der Lehrer die Treppe hochtragen.

  13. Michaela sagt:

    Es ist wie es immer ist: Inklusion beginnt in den Köpfen der Menschen und benötigt Menschlichkeit, Toleranz und Flexibilität im Denken und Handeln. Das können halt nicht alle! Treppen sind – in einer Gruppe – eine geringere Hürde als das Wir-wollen-es-aber-nicht in den Köpfen mancher Menschen.

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