Ein Künstler

Am Rande einer Tagung kommt die Mutter DES MÄDCHENS mit einem Journalisten ins Gespräch.
„Wir drucken jetzt auch ab und zu die Zeichnungen eines jungen Mannes mit Behinderung ab“, erzählt dieser stolz.
„Das finde ich ja prima“, sagt die Mutter.
„Ein echter Künstler ist der“, schwärmt der Journalist. „Wir sind froh, dass wir ihn dafür gewinnen konnten.“
„Und haben Sie ihn angestellt?“, fragt die Mutter.
„Nein“, sagt ihr Gesprächspartner, „so viel arbeitet er nicht für uns.“
„Und als Minijob?“
„Nein, auch nicht.“
„Aber ein Honorar zahlen Sie schon, oder?“, fragt die Mutter ein bisschen scherzhaft nach.
Die Frage ist dem Journalisten sichtlich unangenehm. „Nein, auch nicht. Wissen Sie, unsere Rechtabteilung hat gesagt, das lohnt sich für den doch gar nicht. Er arbeitet ja in einer Werkstatt für Behinderte, und alles, was er dazu verdient, wird ihm bei der Grundsicherung doch wieder abgezogen!“
Die Mutter schweigt.
„ … aber ab und zu schenken wir ihm einen Pizza-Gutschein.“

Die Geschichte vorgelesen …

Goldene Wasserhähne

von 2017

DER JUNGE will Skifahren lernen.
Die Eltern sind skeptisch und versuchen, es ihm auszureden.
Sie haben Angst, dass keine Skischule bereit ist, ihn zu unterrichten.
Dann ist Jubiläumsfest des Sportvereins im Stadtteil.
Die Skiabteilung verkauft Softeis und zeigt Videos von ihren Skikursen.
Die Eltern geben sich einen Ruck und fragen, ob sie den Jungen zum Anfängerkurs anmelden können.
Sie bieten an, gleich zwei oder drei Plätze zu buchen.
Der Skischulleiter schaut sie verwundert an: „Aber dann müssten Sie ja auch den doppelten oder dreifachen Preis bezahlen…“
Die Eltern nicken und erklären: Das wäre, um den Mehraufwand auszugleichen. Der Junge braucht  bestimmt eine intensive Anleitung und viele Wiederholungen.
Da lacht der Skischulleiter: „Das brauchen viele! Wenn wir von allen Anfängern mit wenig Talent mehr Geld verlangen würden, könnten wir uns die Wasserhähne vergolden lassen!“
Dann wird er kurz ernst: „Ich glaube Ihnen schon, dass es mehr Arbeit macht, Ihrem Sohn etwas Neues beizubringen. Aber wenn Sie das als Familie schaffen, dann können wir das doch auch probieren!“
Und so einigt man sich, es mit dem Jungen einfach einmal zu versuchen.
Inzwischen saust der übrigens mit Bravour alle Hänge hinunter und will im Winter immer nur eins: In die Berge fahren!

 

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Und jetzt

Die Mutter ist zum ersten Mal in der Elterngruppe.
Sie ist verzweifelt.
„All die Jahre hat man mir gesagt: Nach der Sonderschule kommt die Werkstatt. Da muss ich mich um nichts kümmern.“
Doch es kam anders: DER JUNGE MANN war nur wenige Wochen im sogenannten „Berufsbildungsbereich“.
„Selbst- und fremdgefährdend nennen sie ihn“, erzählt die Mutter weiter.
„Ihm gefällt es dort nicht. Der lange Tag. Die langweilige Arbeit. Und er weiß ganz genau, wie er dem entkommt. Er steckt dann Gabeln in die Steckdose, fummelt mit Feuerzeugen oder isst Seife. Oder er täuscht epileptische Anfälle vor. Die hat er ja in der Schule oft genug bei anderen gesehen.“
Die anderen Eltern schweigen betreten. Eine Mutter fragt: „Und all dieses Verhalten ist jetzt ganz neu?“
„Nein“, sagt die Mutter, „das hat er in der Schule auch schon gemacht, wenn er keine Lust hatte. Dann wurde er mit seiner Schulbegleitung zum Fußballspielen nach draußen geschickt.“
„Und jetzt?“, fragt ein Vater.
„Jetzt wurde er erst abgemahnt, dann die Maßnahme gekündigt. Und jetzt spielt er nicht irgendwo mit irgendwem Fußball, sondern sitzt den ganzen Tag bei mir zu Hause.“

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Kekse

(2016, neu illustriert)

In der Klasse wird gebacken. Für den Bazar.
Der Schulbegleiter ist heute krank.
„Oh, Gott“, sagt die Lehrerin: Dann darf DAS MÄDCHEN nicht mitbacken.
Es ist schließlich geistig behindert.
Na ja, so schwierig ist das mit dem schon vorbereiteten Teig ja eigentlich nicht.
„Nein, das geht nicht!“,  sagt die Lehrerin.
„Ich könnte helfen“, schlägt die Mutter vor.
„Nein, das geht nicht!“, sagt die Lehrerin. Eltern haben keinen Zutritt.
Also muss das Mädchen nach Hause gehen.
Das Mädchen weint.
Die Mutter weint auch.
Aber sie wischt ihre Tränen weg, stellt sich in die Küche und backt selbst mit dem Mädchen.
Viele schöne Plätzchen.
Das Mädchen ist stolz und nimmt die Kekse am nächsten Tag mit in die Schule.
Die können ja mit auf dem Bazar verkauft werden.
„Nein, das geht nicht“, sagt die Lehrerin. Die sehen etwas anders aus.
Das Mädchen nimmt die Kekse wieder mit nach Hause.
Nachmittags zum Kaffee gibt es jetzt immer selbstgebackene Kekse.
Aber die schmecken nicht mehr gut.

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